Ganz nah ist es wunderschön

Elisabeth, von allen kurz Beta genannt, lebt in Berlin und ist in einem angesagten Start-Up für die Qualitätskontrolle der entwickelten Software zuständig. Technikaffin wie sie ist, besitzt sie einen 3-D-Drucker, mit dem sie vor allem kleine Tiermodelle erstellt. Sie versucht versteckte Berliner Eisdielen ausfindig zu machen und damit ihren Alltag aufzulockern, der wie heute fast schon üblich von Teambuildingmaßnahmen, Abgabeterminen und Ideenfindung bestimmt wird. Am Morgen nach einem One-Night-Stand lädt sie sich eine App auf ihr Mobiltelefon, mit deren Hilfe sie durch fremde Personen, die irgendwo auf dem Planeten ansässig sein können, zu einem gewünschten Zeitpunkt wecken lässt – ein Gespräch ist doch ein sehr viel sanfterer oder zumindest besserer Einstieg in den Tag, als das übliche Weckerklingeln, meinen die Entwickler von Dawntastic, wie sich die App nennt. Dass Dawntastic der Anfang einer grandiosen Schnitzeljagd sein und Betas Leben mit ihr bisher unbekannten, künstlerischen Bereichen, einer anderen Zeit und vor allem mit anderen Menschen verbinden könnte, das ist ihr allerdings nicht klar …

„Pixeltänzer“ – ein Titel, der sich nicht gleich erschließt, für ein Buch, das nicht das ist, was es uns auf den ersten Blick glauben machen will. Hier geht es nicht vorrangig darum, aktuelle Lebensrealität möglichst getreu abzubilden und die Leser*innen in die hippe Welt Berliner Start-Ups zu führen. Wie gesagt nicht vorrangig und schon gar nicht nur. Wie Betas Vater im Roman rät:

„Du musst es unters Mikroskop legen. Schau genau hin, dann ist es wunderschön.“

so sollten auch die Leser*innen dieses überraschenden und grandiosen Debüts an den Roman herangehen. Ihn genau betrachten, nicht nur seinen Inhalt, sondern auch die klug gebildete Struktur wahrnehmen, die Teil des Gesamtkonzepts und gleichzeitig Spiegel des Inhalts ist. Zwei Zeitebenen werden hier nicht nur nebeneinander gestellt, sondern berühren sich fast, versucht Beta doch über das merkwürdige Profilbild eines ihrer Dawntastic-Anrufer mehr herauszufinden und landet unversehens bei Lavinia Schulz und deren leider kaum mehr bekannten Kunst und Lebensgeschichte. Ein wunderbarer Kniff, der die moderne Welt der Bits und Bites auf die expressionistische Kunst Lavinias treffen lässt.

So wie Beta fasziniert vom Profilbild des Dawntastic Users Toboggan auf Lavinia stößt, so suchte ich, nachdem ich 90 Seiten des Romans in kürzester Zeit inhaliert und nachts sogar von den Ganzkörpermasken Lavinias geträumt hatte, nach mehr Information über sie und ihre Kunst. Nicht, um zu prüfen, inwieweit die fiktive Geschichte Lavinias im Roman mit der Realität übereinstimmen könnte, sondern weil die Art dieser Kunst eine eigentümliche Faszination ausübt, der man sich schlecht entziehen kann.

Eloquent und flüssig vermag Berit Glanz es, den beiden Zeitebenen des Romans den perfekten sprachlichen Raum zu geben. Die Passagen, die Beta, die uns als Ich-Erzählerin durch ihr Leben leitet, betreffen, spielen gekonnt mit den Segnungen des modernen, hippen Berlin, ohne glatt oder oberflächlich zu wirken. Geschickt vermeidet die Autorin eine häufig in Texten, die sich stark an der Realität orientieren, zu findende Beliebigkeit. Die Textabschnitte sind frisch und präzise formuliert und ausgearbeitet. Einen gewissen Gegensatz bilden dazu die Texteinschübe, die Lavinias Leben, ihr leidenschaftlich künstlerisches, intensives Wesen fast körperlich spürbar machen, und die Leser*innen gezielt in eine andere Zeit und Atmosphäre versetzen. Übergänge werden mühelos über die Verbindung der für Beta zu einer Art Schnitzeljagd ausartenden Kommunikation mit Toboggan geschaffen.

Nichts wirkt unverbunden oder nicht ausgearbeitet, alle Teile der Collage fügen sich trotz der Dualität, die die einzelnen Struktur gebenden Versatzstücke auch in den Figuren Betas und Lavinias aufzeigen, zusammen. Und der Zeitpunkt der Überlappung beider Bereiche markiert folgerichtig auch das Ende des Romans mit der Möglichkeit für die Leser*innen, sich die weiterführende Geschichte selbst auszumalen.

Pixeltänzer ist ein überraschendes Buch, das für mich ein absolutes Lesehighlight – nicht nur 2019 – darstellt. Es birgt viel mehr in sich, als man es in einem Vorschautext oder einer Klappenbeschreibung fassen könnte. Die Vielschichtigkeit, die klugen Wendungen und Auflösungen, die wunderbare sprachliche Gestaltung – all das trägt zu einem rundum perfekten Leseerlebnis bei. Ich freue mich sehr über diese Entdeckung, die mir meinen Horizont erweitert hat. Es gäbe noch viel mehr zu diesem Regaljuwel zu sagen, doch ich beschränke mich hier und jetzt auf ein striktes: LEST DIESES BUCH!

Pixeltänzer von Berit Glanz ist im Juli 2019 im im Verlag Schöffling & Co. erschienen. Für mehr Information Klick auf das im Beitrag abgebildete Cover oder direkt auf der Verlagsseite.

17 Gedanken zu “Ganz nah ist es wunderschön

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  3. Wie schön – das freut mich sehr. Es ist tatsächlich ein ganz besonderes und ganz besonders schönes Buch. LG und immer gerne 😉

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  4. Liebe Bri, ich habe das Buch in den letzten 3 Tagen gelesen. Und es ist ganz bezaubernd, genau wie Du sagst mit einer Lechtigkeit, aber nicht seicht, selbst das Ende ist gelungen.

    Dankef ür den Tipp.

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  7. Sehr schön, Missetat begangen 😉 wunderbar. Das freut mich. Es gibt natürlich norh mehr zu entdecken in dem Buch, als ich geschrieben habe … aber ich will ja nicht spoilern. LG und Danke für eine Rückmeldung dazu! LG

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  8. Du musst das lesen. Unbedingt. Es ist ist ganz ganz gropartig, weil es mit einer für die dt. Literatur leider nicht alltäglichen Leichtigkeit verfasst ist, die die komplexe Struktur ect. fast vergessen lässt und das ist eine wahre Kunst. Finde ich. LG udn wenn Du es gelesen hast, worauf ich mich verlasse ;), muss ich unbedingt wissen, wie Du es findest 😉 Ganz liebe Grüße, Bri

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