Mein Vater

Alle Menschen hinterlassen etwas. Manche ein großes Vermögen, ein Haus, Schmuck, Geld, Aktien, Möbel, Bücher, doch viele hinterlassen nur Erlebnisse, die die Hinterbliebenen mit den Verstorbenen erlebt haben. Auch die kleinen Dinge werden hinterlassen. Alltägliche Dinge, die der Verstorbene benutzt hat, die so typisch für ihn waren (oder für sie). Und besteht das Leben nicht viel aus den ganz alltäglichen Dingen, die getan, benutzt werden, Dinge, die mit dem benutzten Menschen sozusagen aufgeladen werden, mit Erinnerungen getränkt?

Genau von diesen Dingen handelt dieses Buch. Rainer Moritz beschreibt unprätentiös das Leben seines Vaters. Beim Anblick des Hab und Guts, die sein Vater benutzte, „fächert sich das Leben auf, als würden Bojen auftauchen, die den Fluss unserer Biografie abstecken.“ Und anhand dieser ganz normalen Sachen wird ein so herrlich normales Leben erzählt. Ein Leben, an dem der Autor als Sohn mit teilhaben konnte. Nicht immer sind Leben aufregend oder schillernd, die meisten verlaufen in ruhigen Bahnen.

Manch einer wird dies vielleicht als Spießertum abtun. Und ja, die Zeit in der K. Moritz lebte, waren die 60er, 70er Jahre, in denen das Bürgertum so herrlich aufblühte. Wer in diesen Jahren aufwuchs, wird so vieles in diesem Buch wiedererkennen und vielleicht auch den eigenen Vater, wer weiß?

Es fängt schon an dem Schild der Haustüre an, das sich von den bunten, selbstgebrannten und bemalten Schildern der späteren Jahre unterscheidet.

„Noch Monate nach seinem Tod, bis die Haustüre ausgetauscht wurde, signalisierte ein Messingschild, wer hier wohnte. K. Moritz stand da sein Name nur, kein Gedanke daran, alle Familienmitglieder, die Kinder und Haustiere darauf zu verewigen.“

Jetzt war der Vater kein Haustyrann oder ein Frauen- und Kinderunterdrücker, im Gegenteil. Es stand aber nun mal in den 60er Jahren meistens nur der Mann der Familie auf dem Schild. Viele Dinge verlieren ihre Emotionen, ob das rückblickend gut oder schlecht war, wenn man sie aus dem Blickwinkel der erlebten Zeit betrachtet. Wie waren die Väter denn so? Beim Gedanken an meinen verstorbenen Vater kommen mir viele Erinnerungen, die denen von Rainer Moritz gleichen.

„Wie oft haben wir uns im Leben umarmt? Wie oft bin als Kind auf seinem Schoß gesessen? Fotos zeigen mich beim Wandern auf seinen Schultern sitzend, doch von zahlreichen Zärtlichkeiten zwischen Vater und Sohn ist kaum eine Erinnerung geblieben.“

Das Leben hatte eine Eindeutigkeit. Dinge und Menschen hatten ihren Platz. Diskussionen über uneindeutige Themen wie familiäre Katastrophen, Seitensprünge, Eifersuchtsattacken, Mord oder Unfällen wurden nicht ausgetragen. So etwas passierte woanders. Auch die Abfolge der Tätigkeiten während der Tage war vorgegeben, die Weihnachts- oder Osterfeiern wurden nach einem bestimmten Rhythmus, Plan abgehalten. Auch die Wochenenden waren genau aufgegliedert, die Familienmitglieder hatten ihre Aufgaben. Das führte sicherlich dazu, eine Ordnung herzustellen, aber schärfte oder erweiterte nicht den Charakter.

„War Vater ein gläubiger Mann? Nein. Oder besser: ich weiß es nicht. Vielleicht hatte er Vorstellungen von irgendeinem Jenseits, von einer Ruhe nach dem Tod. Gesprochen haben wir darüber nicht. Wie über vieles nicht.“

Sicherlich hatte diese Art Leben eine gewisse Starrheit, vermittelte aber auch Sicherheit. Die eigenen Grenzen wurden nie ausgelotet, weder bei der Arbeit, die Arbeitsstelle oder die Art der Arbeit wurde nie vom Vater gewechselt oder in Frage gestellt, noch bei anderen Tätigkeiten wie z. B beim Kochen. Viele Väter in den 60er Jahren wären bestimmt verhungert, wenn die Frau in einen Kochstreik getreten wäre (Was aber undenkbar war). Selbst beim Spielen mit den Kindern wird die Bürgerlichkeit abgebildet.

„Für meine Schwester ließ er in der Zimmerei der Baufirma ein Puppenhaus mit feuerrotem Dach bauen. Meine Mutter bestückte die Etagen mit zerbrechlichen Möbeln und winzigen Figuren – eine weitere Möglichkeit, bürgerliches Leben nachzuahmen, unseren Alltag in dem der Puppenhausmenschen zu spiegeln. Subbuteo, Eisenbahn, Puppenhaus – wir spielten keine Spiele, die uns in ein ganz fremdes Leben führten, die Exotisches suchten.“

Es ist ein ruhiger Ton, den Rainer Moritz anschlägt. Ohne Wertung erzählt er von der Zeit mit seinem Vater, verknüpft die Sachen seines Vaters mit erlebten Anekdoten und erdet damit sein Buch ganz gewichtig. Die Erinnerungen, die er dem Leser mitteilt, sind recht unspektakulär, doch stehen diese stellvertretend für eine ganze Generation. Wie gerne hätte ich diesen einen Satz von Rainer Moritz im Verhältnis zu meinem Vater beherzigen können: „Ich bin froh, dass Vater war, wie er war, gleichgültig, wie oft ich mir gewünscht hab er, er wäre nicht so gewesen, wie er war.“ So vieles wäre einfacher für ihn und mich gewesen. Doch Zeit seines Lebens habe ich mit meinem Vater gehadert. Eine etwas unemotionalere Auseinandersetzung mit dem eigenen Aufwachsen, wie in diesem Buch beschrieben, hätte mir sicherlich geholfen. Vielleicht passieren diese nüchternen, aber sinnigen Rückblicke erst nach dem Tod der Eltern. Ich hoffe, dass meine Kinder zeitlebens nicht so viele Kämpfe mit mir haben. Ich sollte ihnen dieses Buch schenken.

Mein Vater, die Dinge und der Tod von Rainer Moritz ist 2018 im Verlag Antje Kunstmann als gebundene Ausgabe erschienen. Nähere Infos zum Buch über einen Klick auf das Cover im Beitrag oder auf der Verlagsseite.

 

 

2 Gedanken zu “Mein Vater

  1. Danke für die Besprechung und den „Vater-Satz“: „Ich bin froh, dass Vater war, wie er war, gleichgültig, wie oft ich mir gewünscht hab er, er wäre nicht so gewesen, wie er war.“
    Dies rührt an eigene fragende und dankbare Erinnerungen sowie bücherseits an Philip Roth, „Mein Leben als Sohn“. Er hatte sich aus dem Nachlass einen Rasierpinsel gewählt …
    Gute Wünsche, viele Grüße

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