Chinas verlorene Töchter

Es ist fürchterlich! Was da in China aufgrund der unsäglichen Verknüpfung von alten patriarchalischen Strukturen und der 1-Kind-Politik in den letzten Jahrzehnten im Detail gegen weibliche Babys abgegangen ist, haben wir hier in Europa möglicherweise geahnt, wir haben uns selten genauer damit beschäftigt und es sicher nicht im Detail gewusst. Diese Reportage ist derart ungeheuerlich und brutal, dass einem die Spucke wegbleibt und sich das Würgen einstellt.

Ein sehr wichtiges Werk, das ich überhaupt nicht bereue, gelesen zu haben und das mir die Augen geöffnet hat. Ich möchte es Euch wirklich dringend ans Herz legen, denn diese Fakten zu wissen, ist einfach sehr wichtig, da ein Genozid an weiblichen Babys erst vor Kurzem strukturell geplant in großem Stil passiert ist und in den ländlichen Gebieten Chinas noch immer tagtäglich stattfindet.

Im Rahmen meiner A-Z Autorinnenchallenge  (Details dazu hier), bin ich beim Buchstaben X im Nachnamen zwangsläufig über die chinesische Radiomoderatorin und Journalistin Xinran Xue gestolpert und ich freue mich sehr, dass ich sie entdeckt habe.

Das Buch ist in Form einer Reportage über die Zustände in China angelegt, die sehr persönlich gehalten wird, da Xinran von Schicksalen der Mütter und aus ihrer eigener Sicht ihres Involvements die Lebensgeschichten der Frauen und die der Babys schildert. Schon die erste Szene beschreibt, was hier abgeht. Xinran ist im Rahmen der Recherche in ländlichen Gebieten Chinas eingeladen, und eine Frau liegt bei ihren Gastgebern in den Wehen. Plötzlich wird es ganz still, die Stimmung kippt, alle tun so, als ob kein Kind geboren wurde und gar nichts passiert sei. In einem Kübel im Geburtszimmer sieht sie das noch zuckende Bein eines Babys, weggeworfen wie Müll. Sie versucht, das Mädchen zu retten, wird aber von ihren Gastgebern daran gehindert. Nach dieser Erfahrung recherchiert sie weiter und deckt Fürchterliches auf. Auf dem Land werden weibliche Babys sofort bei der Geburt umgebracht, denn in den alteingeführten patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen Chinas zählt sowieso nur der Sohn und durch die verordnete 1-Kind-Politik werden die Mädchen von Hebammen und ihren eigenen Verwandten – Müttern, Vätern, bzw. Schwiegereltern – so lange getötet, respektive sofort nach der Geburt erstickt, bis sich dieser gewünschte männliche Erbe auch einstellt.

Aber auch andere Strategien von Eltern werden recherchiert und in einzelnen Schicksalen dargestellt. Manche Mütter behalten ihre Töchter so lange, bis sie wieder schwanger werden und setzen sie dann aus. Das natürlich so lange und auch so oft, bis der ersehnte Sohn produziert wird. In weiteren Stories wird dann die systematische Adoption eigentlich ja der Verkauf von chinesischen Mädchen an Adoptiveltern im Ausland geschildert und wie sich dieser Usus quasi staatlich unterstützt zuerst im städtischen und dann im ländlichen Raum durchgesetzt hat. Dabei werden fast alle Regeln des Haager Übereinkommens zum Schutz von Kindern verletzt, vor allem gibt es nicht mal Aufzeichnungen, wer die Kinder überhaupt sind (alles wird weggeworfen). Die Zustände in den Waisenhäusern sind derart unmenschlich, kriminell, eigentlich nur um eine Nuance besser als die Tötung der Mädchen. So wird Schicksal für Schicksal aufgerollt und zu einer Gesamtreportage, einem Bild zusammengestellt.

Wie gesagt dies alles ist im Stil der persönlichen Lebensgeschichten und herzzerreißenden Schicksale von Müttern und nicht sachlich dargelegt. Dieser Stil gibt zwar inhaltlich durch die Wahl der Beispiele auch ein ausreichend breites Bild der Zustände in China, ist aber von der Tonalität natürlich sehr persönlich und emotional angelegt. Manchmal hat mir für die Rezeption der Stories dann ein bisschen die neutrale sachliche journalistische Klammer und die Hintergrundinfo bezüglich der rechtlichen, ökonomischen, demografischen, gesellschaftlichen Fakten gefehlt, die leider erst auf Seite 259 eingeführt werden, obwohl sie eigentlich schon zu Beginn auf der ersten Seite von mir benötigt worden wären. Hier sollte die die Struktur des Werkes umgedreht und die Hintergrundinfos am Ende des Buches als journalistische sachliche Einführung in das Thema von der Autorin zu Beginn installiert werden. Dann kann man auch die Geschichten nicht nur fühlen, sondern von Anfang an besser verstehen.

Bei der Übersetzung gibt es einige strukturelle Fehler, einmal wurden Monate mit Jahren verwechselt und öfter wurde immer dieselbe Formulierung verwendet, anstatt Synonyme einzuführen. Diese Redundanzen nerven und stören natürlich, wenn man das Buch auf Deutsch oder Englisch liest. Gut fand ich jedoch, dass der Übersetzer auf diese Schwächen in den Anmerkungen einging, dass das im Chinesischen offensichtlich etwas schwierig umzusetzen ist, und sich prophylaktisch dafür entschuldigt. Auch glaube ich, dass sich das im Laufe der Zeit etwas verändern wird, wenn mehr Bücher aus dem Chinesischen übersetzt werden und die Verlage damit mehr Erfahrungen bekommen.

Fazit: Eine extrem wichtige, erschütternde, packende Reportage, die ich allen sehr ans Herz lege. Wir alle sollten wissen, mit welchen Mitteln die wirtschaftliche Turboentwicklung Chinas auf dem Rücken von Mädchen erkauft worden ist. Auch gibt das Buch einen guten Blick darauf, mit welchen Strategien Entwicklung und Überbevölkerung NICHT in den Griff zu bekommen sein sollte. Eine derartige Denkweise ist nicht nur unmenschlich grausam, sondern auch langfristig für die demografische Entwicklung eines Landes totaler MUMPITZ! Auf jeden Fall macht dieses Werk wütend und traurig, aber mündige Menschen mit Herz, Sinn und Verstand müssen da durch und genau hinsehen, auch wenn es bis in die Knochen wehtut und sich dieser Genozid sehr weit weg im Osten ereignet hat bzw. noch immer ereignet.

Wolkentöchter von Xinran ist 2015 im Droemer Verlag als Taschenbuch-Ausgabe erschienen. Nähere Infos zum Buch über einen Klick auf das Cover im Beitrag oder auf der Verlagsseite.

9 Gedanken zu “Chinas verlorene Töchter

  1. Pingback: Mehr Sachlichkeit in diesem Sachbuch! | Feiner reiner Buchstoff

  2. Das Buch kannte ich noch gar nicht, obwohl ich schon einige von chinesischen Autoren gelesen habe. Ich werde es mir auch mal besorgen, klingt sehr „interessant“.
    Da die Ein-Kind-Politik offiziell erst 2015 für beendet erklärt wurde und das Buch auch von 2015 ist, finde ich (und kann mich da einer Vorrednerin nicht anschließen), dass es trotzdem sehr aktuell ist.
    Außerdem kann man so schnell nicht alles was so in den Köpfen vorgeht ändern.

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  3. Vielen Dank – rein gedanklich ist mir das schon alles klar, ich würde aber halt trotzdem – hoffe ich – nicht so handeln, weil ich es emotional, moralisch, ethisch, wie auch immer man es nennen will, nicht nachvollziehen, verstehen kann. Aber das mag auch aus einer priviligierten Sicht heraus gedacht zu sein. LG, Bri

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  4. Ich kann dir deine Frage beantworten. In der chinesischen Tradition ist es seit Tausenden von Jahren so, dass nur ein männlicher Nachkomme für die Ahnen sorgen kann. Das ist für das Gedeien der Familie sehr wichtig. Töchter verlassen das Elternhaus mit ihrer Heirat und gehören dann letztendlich nicht mehr zur Familie.
    Wie überall auf der Welt ist es schwer, solche Traditionen aus dem Denken der Menschen zu löschen. Die chinesische Regierung gibt sich dabei aber große Mühe.
    LG
    Ulrike

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  5. Ich habe auch schon Bücher von der Autorin gelesen. Mit fällt dabei immer wieder auf, dass sie sehr einseitig polemisiert. Auch scheint sie mit manchem nicht mehr auf dem Laufenden zu sein. Die sog. Ein-Kind-Politik gibt es nun schon ein paar Jahre nicht mehr. Die Vernachlässigung von Mädchen hat eine lange Tradition in der Geschichte Chinas. Das hat mit der Politik eigentlich nichts zu tun. Im Gegenteil! Die chinesische Politik wirbt für Töchter. Auch in den rückständigen Gebieten auf dem Lande versucht man, die Einstellung zu Mädchen und Frauen zu ändern.
    Es gibt mittlerweile auch sehr gute Waisenhäuser in China- Sicherlich gibt es da bei vielen noch Verbesserungsbedarf. Ich hab übrigens mal ein Waisenhaus besucht. Ich kenne auch sehr, sehr viele Familien, die mit ihren Töchtern sehr glücklich sind. Dass heute noch weibliche Babys getötet werden, ist eine seltene Ausnahme. Dies wird auch mit Härte strafrechtlich verfolgt.
    LG
    Ulrike

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  6. ja, das war mir schon auch klar. Naja, die Stellung verbessert sich dann erst, wenn klar ist, was das für Auswirkungen hat. keine Ahnung, weshalb sich so viele Chinesen Jungs gewünscht haben und weibliche Föten abtreiben ließen … das erschließt sich mir grundsätzlich schon mal gar nicht.

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  7. Bri, das war mir schon klar, aber ne gelungene Rezi zu nem Funbuch ist schlicht gefälliger😉
    Blöd, dass wenn Frauen teuer sind sich ihre gesellschaftliche Stellung immer noch nicht verbessert.

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  8. Nun ja, das gefällt mir bezieht sich ja immer auf die Besprechung und in diesem Sinn gefällt es mir, dass awogfli sich diese gruselige Lektüre angetan hat und uns mit den Infos dazu versorgt. Es gibt schon Dokumentationen darüber, wie viel Geld ein Junggeselle in China hinlegen muss, damit er eine Frau findet … es ist unglaublich, was diese Ein-Kind-Ehe-Politik alles mit sich brngt an Konsequenzen.

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  9. Hier auf gefällt mir zu drücken ist widersinnig, dennoch hat die Leseerfahrung es verdient, denn sie schildert woraufhin eine zutiefts patriarchalische Gesellschaft führen kann. Mein Chinabild ist erweitert worden und das nicht positiv. Trotzdem danke.

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