Wider das Vergessen

Zufall oder holistische Fügung führen François-Henri Désérable nach Vilnius. Der Junggesellenabschied eines guten Freundes steht an und da die jungen Männer Eishockey lieben, soll der denkwürdige Abend in Minsk stattfinden, wo ein wichtiges Turnier abgehalten wird. Aufgrund von fehlenden Direktflugmöglichkeiten entscheidet sich Désérable, nach Vilnius zu fliegen und von dort den Zug nach Minsk zu nehmen. In Vilnius bleiben ihm zwei Stunden Zeit bis zur Zugabfahrt. Zu wenig, um einen Bummel durch die Stadt zu machen, doch genug, um etwas zu essen. Wie das Leben eben manchmal so spielt, hält es für den jungen Mann auf der Durchreise eine Überraschung in Form einer Kellerkneipe mit nur einem weiteren eher undurchsichtig wirkenden Gast und einer Kellnerin – geschminkt wie eine Königin – parat. Eine kleine Unaufmerksamkeit führt dazu, dass Désérable zumindest kurzfristig in Vilnius strandet und der ausgedehntere Stadtbummel mit ungeahnten Auswirkungen nun doch möglich wird.

Das Treibenlassen führt unseren jungen Autor, der gleichzeitig als Erzähler fungiert, geradewegs zu einem Haus an dessen Fassade eine Plakette angebracht ist. Sie weist darauf hin, dass hier der französische Schriftsteller und Diplomat Romain Gary in seiner Kindheit mehrere Jahre gelebt hat. In seinem Roman Frühes Versprechen werden dieser Ort und ein ganz spezieller Mensch erwähnt. Désérable steigt urplötzlich ein Satz aus dem Roman, dem er sein Abitur verdankt, ins Gedächtnis:

» In der großen Pohulanka Nr. 16 in Vilnius lebte ein gewisser Herr Piekielny.«

Und damit beginnt eine Suche, eine Reise, der besonderen Art. Weder der Straßenname noch die Hausnummer, die in Garys Roman Erwähnung finden, stimmen. War die Straße einfach umbenannt und waren die Hausnummern neu zugeteilt worden? Konnte es tatsächlich sein, dass hier der kleine Roman – damals hieß er noch Roman Kacew – gelebt hatte? Dass es diesen gewissen Monsieur Piekielny, dessen Schicksal so ungewiss war, wie der Millionen anderer Juden, anderer Naziopfer, tatsächlich gab? Die immerwährende Frage nach Identitäten, Fiktion und Wahrheit, stand plötzlich unübersehbar im Raum und wie wir Menschen so sind, neugierig, musste Désérable ihr nachgehen.

Gary war vieles: zunächst Russe, der mit seiner Mutter nach Nizza gezogen war, von dort in Zeiten des Krieges und der Besatzung Frankreichs durch die Deutschen nach England ging, als Widerstandskämpfer, Pilot, unter de Gaulle erfolgreich das Naziregime bekämpfte, später Diplomat und Schriftsteller. Seine Identität ließ er immer ein wenig im Dunkeln, umgab sich gerne mit einer gewissen geheimnisvollen Aura. Er ist der einzige Schriftsteller, der es schaffte, den Prix Goncourt zweimal zu erhalten – faktisch unmöglich, eigentlich ein Betrug, denn er schrieb unter einem Pseudonym, was niemand erfahren sollte. In vielem blieb er bis zu seinem Freitod, ja eigentlich sogar darüber hinaus ungreifbar. Das Spiel der Identitäten war ihm vertraut, die Verstrickung von Realität und Fiktion ebenso.

Wie Gary schafft es Désérable selbst verblüffend leicht, die vielen Ebenen seines Romans miteinander zu verknüpfen, ja sie sogar ineinander greifen zu lassen. Garys Piekielny, der für die vielen Opfer des Naziregimes steht, dient ihm als Leitstern auf seiner Reise durch die Vergangenheit. Die vielen Menschen, die keine Spuren hinterlassen konnten, weil sich niemand mehr an sie erinnern kann, würden durch Désérable ein zweites Mal etwas mehr dem Vergessen entrissen. Gary hat ihnen mit Piekielny ein Denkmal gesetzt, dem Désérable wiederum ein Denkmal setzt. Ein sehr kluges, einfühlsames noch dazu. Dabei ist ihm letztendlich gleichgültig, ob Piekielny rein fitkiv, an eine real existierende Person angelehnt oder eine tatsächlich existierende Person ist.

Das ist wohltuend, gerade in einer Zeit, in der Literatur allenthalben auf ihren Bezug ins wahre Leben hin abgeklopft wird, in der Autoren mit ihrem Werk anstandslos gleichgesetzt werden. Und trotz der offen bleibenden Frage nach einer realen Vorlage bleibt der gewisse Monsieur Piekielny für Désérable der Dreh- und Angelpunkt, um seine vielschichtigen Sujets: Gary und dessen Identitäten, der Holocaust und seine furchtbaren Auswirkungen, seine eigene Familiengeschichte – ebenfalls vom Verschwinden einer wichtigen Person und dem familiären Schweigen darüber geprägt. Vor allem aber ist es die Frage nach den Auswirkungen von Literatur auf unser Leben und die Verschmelzung von Fiktion und Realität, Dichtung und Wahrheit, die diesen wunderbaren, klugen, belesenen und erhellenden Roman trägt. Mit sicherer, aber leichter Hand bedient sich Désérable vielfältiger schriftstellerischer Kniffe und hat mich persönlich mit diesem Roman verzaubert und begeistert. Das Werk Romain Garys werde ich mir eingehend ansehen, und das ist vor allem das Verdienst dieses jungen Mannes, der seine Liebe zur Literatur und zu den sie bevölkernden Figuren ganz offenherzig vor seinen Leser*innen ausbreitet und wohlweislich darauf verzichtet, in den Archiven zu überprüfen, was nun in echt passiert ist mit Monsieur Piekielny und ob es ihn tatsächlich gab.

Wenn er denn nur aus Tinte und Papier war, bedeutete das den unzweifelhaften, glänzenden Triumph der Literatur durch die Fiktion.

Aber wenn er doch in echt existiert hatte, wie die Kinder sagen? […] wenn Gary also aus diesem Körper einen Körper aus Worten gemacht hatte? Auch dann würde die Literatur triumphieren, in diesem Fall durch die Wirklichkeit.

Manches Mal behauptet man, sie vermöge nicht sonderlich viel, sie bewirke nichts gegen den Krieg, gegen die Ungerechtigkeit und die Allmacht der Finanzmärkte – und das stimmt vielleicht sogar. Doch zumindest vermag sie dies: dass ein junger Franzose, den es nach Vilnius verschlägt, den Namen eines kleinen Mannes ausspricht, der siebzig Jahre zuvor in eine Grube geworfen oder in einem Ofen verbrannt wurde – eine traurige Maus mit scharlachroter Haut, von Kugeln durchlöchert oder in Rauch aufgegangen, die aber weder die Nazis noch die Zeit vollständig auslöschen konnten, weil ein Schriftsteller sie dem Vergessen enthoben hat.

Ein gewisser Monsieur Piekielny ist im Juli 2018 bei C.H. Beck erschienen. Weitere Informationen über einen Klick auf das im Beitrag abgebildete Cover oder auf der Verlagsseite.

6 Gedanken zu “Wider das Vergessen

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