Den eigenen Südpol finden

„Stille heißt, eine Pause einlegen, um Dinge wiederzuentdecken, die uns Freude bereiten.“

Vor einigen Jahren verbrachte ich die letzten Tage des Jahres mit meinem damaligen Freund – und jetzigem Mann – in einer abgelegenen Hütte in der Fränkischen Schweiz. Es gab kein elektrisches Licht, nur Kerzen; keine Heizung außer einem Holzofen auf dem auch der Schnee, der damals doch recht üppig lag, zu Wasser geschmolzen und dann abgekocht werden konnte. Gekocht wurde ebenfalls auf dem Ofen, und man hatte zu tun, es rund um die Uhr angenehm warm zu haben. Was wir nicht mitgebracht hatten, war nicht vorhanden. Doch vor dem Haus war eine Frischwasserquelle, die mein Mann mit fachmännischem Blick unter dem Schnee entdeckte und schnell befreite. Im Garten gab es einen keltischen, streng nach dem Sonnenstand zur Sommersonnenwende ausgerichteten Steinkreis. Dort waren wir im Sommer des Öfteren gesessen und hatten die Zeit mit Gesprächen verbracht. Wie gesagt, was wir nicht mitbrachten, gab es nicht. Doch was wir vorfanden, war Stille – in Form von Abwesenheit lauter Geräusche und in Form von Raum. Im Nachhinein darüber nachdenkend, war es sogar eine göttliche Ruhe, die uns umgab – obwohl wir nicht wirklich allzu weit von der nächsten menschlichen Ansiedlung waren. Dennoch gelang es uns, die Welt für diese paar Tage auszuschließen. Die Zeit stand nicht still, und wir hatten den Tag über gut zu tun, um es angenehm zu haben, nicht zu frieren, uns gut zu fühlen. Und obwohl die Welt außen vor war, waren wir mit ihr in Verbindung. Mehr sogar als wenn wir mitten im wuseligen Treiben zur Vorbereitung irgendwelcher Jahresendparties oder ähnlichem gewesen wären. Lesestoff gab es genug, doch keine andere Ablenkung von uns, oder dem was uns umgab. Wir waren eins mit uns selbst und unserer Umgebung.

Es waren tatsächlich nicht mehr als zwei, drei Tage in diesem Tal, das zwar nur über eine schmale, steile, über tatsächlich enge Kurven erreichbare Landstraße zugängig war und spätere kleinere Auszeiten oder Urlaube waren angenehm, schön und erholsam, doch dieses Erlebnis war besonders bereichernd und nachhaltig. Es hatte uns ein wenig von unserem Alltag entrückt.

Solche Unterbrechungen der alltäglichen Betriebsamkeit, die jeder von uns kennt, gerade mit Familie, sind wichtig und manchmal schwer zu realisieren. Seit ich in der Großstadt wohne, fühle ich das Bedürfnis nach dem, was Erling Kagge in seinem grandiosen, wunderbaren Buch versucht zu erklären, dessen Wesen nachzuspüren, indem er diesen Zustand von verschiedenen Seiten betrachtet, stärker als zuvor. Stille ist, was mir fehlt. Doch das umreißt nicht nur die Abwesenheit von lauten Geräuschen, denn wirklich lautlos ist es wohl nur im All, sondern auch eine gewisse Distanz zu den vielen anderen Menschen, denen ich tagtäglich auf dem Weg zur und von der Arbeit begegne. Kagges Betrachtungen haben meinen Blick auf meine Bedürfnisse dahingehend geschärft, mein automatisches Verhalten zu hinterfragen und mich früher aus anstrengenden, enervierenden Situationen herauszunehmen.

Wir leben in einer Gesellschaft des Lärms. Will man diesem entfliehen, muss man es auch wirklich wollen. Und dann ist das überall möglich, da gehe ich mit Kagge absolut d’accord. Es braucht keine Luxusorte, die einem vorgaukeln, man fände dort, das was eigentlich unentgeltlich zu haben, mittlerweile aber ein Luxus geworden ist, was man sich quasi „verdienen“ muss. Vielleicht muss man das auch – Erling Kagges Theorie der uns angeborenen Unruhe, die uns dazu bringt, uns ständig von uns selbst ablenken zu wollen, ist nachvollziehbar und nichts Neues – heute jedoch wohl noch schwieriger zu handeln, als früher.

„Der Gedanke liegt nahe, dass das Wichtigste oder die Essenz in der Technologie das Technologische ist, aber das ist ein Fehler. Die Essenz sind du und ich. Es geht darum, wie wir von der Technologie, die wir nutzen, verändert werden, was wir lernen wollen, wie unser Verhältnis zur Natur aussieht, über die wir uns freuen, wie viel Zeit und Energie wir verbrauchen und wieviel Freiheit wir für Technologie aufgeben. Ja es ist richtig, wenn viele darauf hinweisen, dass sich durch die Technologie Abstände verkürzen, aber das ist in erster Linie eine banale Feststellung. Wesentlich ist eher, worauf Heidegger hinwies: das Ausbleiben von Nähe.“

Kagge selbst ist wohl ein Getriebener, hat er doch als erster Mensch die drei Pole – Südpol, Nordpol und den Mount Everest – erreicht und immer wieder die Stille gesucht. Still zu sitzen ist für ihn wohl schwieriger, als für andere Menschen und dennoch versucht er immer wieder, diesen Zustand zu erreichen, in der Natur aufzugehen, eines der unglaublichsten Glücksgefühle und der Verbindung schaffende Moment schlechthin. Draußen gelingt das einfach besser.

Menschen, die Kinder haben, kennen sicherlich alle folgendes Phänomen: In der Wohnung sind die lieben Kleinen an manchen Tagen so missmutig, aufgedreht oder schlecht gelaunt, dass man sich dreimal überlegt, ob es Sinn macht, mit ihnen an die frische Luft zu gehen. Doch tut man dies dann und hat die Möglichkeit, in einen Wald zu gehen, kommen sie urplötzlich bei sich an und empfinden weder Langeweile, noch irgendeine andere Unbill. „Wenn Du drin bleiben willst, musst Du raus.“ – unser von Petterson und Findus entliehener Lieblingsspruch an solchen Tagen trifft den Zustand punktgenau.

Stille: die Pause in einem Musikstück, das in sich gehen, die Welt ausschließen, eins werden mit der Zeit, das alles braucht nicht unbedingt einen bestimmten Ort. Was es braucht, ist der Wille, die Entscheidung dazu, sich selbst zu begegnen, vermeintlich nicht alles mitzubekommen. Kagge entwickelt diesen Gedanken mit Leichtigkeit, spricht aus, was wir uns vielleicht alle schon selbst gedacht haben und verpasst uns den nötigen Schubs, indem er uns klar macht, dass nicht die Umstände es sind, die uns davon abhalten inne zu halten, wenn wir es brauchen. Es gibt viele Situationen, in denen man ein wenig beiseite treten sollte – eine meiner persönlichsten war der Tod meines Vaters kurz vor seinem 91. Geburtstag, der nicht plötzlich eintrat, eher schon länger erwartet war. Ich habe mich, obwohl ich zwar traurig, aber nicht am Boden zerstört war, zwei Tage ausgeklinkt. Darüber nachgedacht, was er mir bedeutet hat und ihm damit – so sehe ich das – ein wenig Respekt gezollt. Die Welt stand für diese zwei Tage tatsächlich ein klein wenig still. Eine unglaublich wohltuende Erfahrung.

Völlig fernab von jeglicher Esoterik, wohltuend konsequent und einfach wunderbar durchdacht, ohne konstruiert zu sein, unangestrengt in Sprache und Duktus gibt uns Kagge 33 mögliche Antworten auf die Frage, was Stille sein kann. Der besondere Knalleffekt am Schluss hat mir ein glückliches Lächeln ins Gesicht gezaubert. Und ich habe mir fest vorgenommen, meinen eigenen Südpol zu finden und regelmäßig aufzusuchen. Begonnen habe ich nach der Lektüre von Stille erst einmal damit, nicht gleich nach dem nächsten Buch zu greifen. Zu Kagges Stille aber solltet ihr auf jeden Fall greifen, wenn ihr es noch nicht getan habt. Besonders schön gestaltet ist es zudem.

Eine weitere, sehr schöne Besprechung zu diesem grandiosen Buch findet sich bei Zeichen&Zeiten , meine liebe Mitstreiterin Thursdaynext hat mir so sehr vom Hörbuch vorgeschwärmt und ich muss ihr dafür danken, dass ich dieses Schätzchen entdecken konnte. Auch an den Verlag, der uns dieses Buch in deutscher Sprache beschert hat. Nun ab zum Buchhändler eures Vertrauens – er weiß, wo ihr Stille finden könnt.

„Wichtig ist nicht, wie es dir geht, sondern wie du die Dinge angehst, heißt es in einem alten norwegischen Sprichwort […]“

Buchdetails

  • Aktuelle Ausgabe: 11. September 2017
  • Verlag: Insel Verlag
  • ISBN: 978-3-458-17724-1
  • Gebunden 144 Seiten

 

7 Gedanken zu “Den eigenen Südpol finden

  1. Nun, wir waren ja im Winter und bei Schnee – da wirkt alles eh noch etwas ruhiger, gedämpfter. Ja, es steht nicht so gut um die Bienenvölker, das ist traurig. LG, Bri

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  2. Mag es still sein am Südpol, am Nordpol oder Everest, dorthin zieht es mich nicht. Eher schon in die Fränkische Schweiz. Du schilderst die Erfahrung einer „göttlichen Ruhe“. Die dortige Kirschblüte empfand ich „geradezu himmlisch“. Die Kirschgärtner sind wohl beunruhigt, ob vielleicht die Bienen zu still waren oder wie im vergangenen Jahr der Frost nochmal kommt.
    Philosophisch gewendet mochte ich stets gerne den Satz von Augustinus: „Unruhig ist unser Herz, bervor es ruht in Dir, o Herr.“
    Danke für die ganz persönliche Buch-Betrachtung und viele Grüße

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  3. Oh wie cool – das wäre auch was, wenn man von anderen wüsste, welche Orte das für sie wären oder waren. Ein echt großartiges Buch.

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  4. Mittlerweile habe ich auch das Buch und es ist wirklich wunderschön, noch ist es nur entliehen, aber es wird noch heimisch werden. Stille, immer wieder von neuem zu finden ist eine Lebensuafgabe und du beschreibst eindrücklich weswegen es sich immer wieder lohnt. Mein Ort der Stile von dem ich auch heute noch imaginativ zehren kann wird immer der Stein im Fluss Verdon sein gelegen an einem Campingplatz in der Haute Provence an dem wir waren als die kids noch klein waren. Der erste Kaffee am Morgen allein auf diesem Stein inmitten der Natur die dir klarmacht wie egal es ist ob du da bist oder nicht und dadurch alles relativiert, ich habe dieses Gefühl immer noch in mir und es ist gut. Reduktion ist die Antwort auf Streß, Hektik und Hamsterrad.

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