abrogans = dheomodi (bescheiden, demütig)

042_87559_179460_xxlFranz Hohler war mir bis Dezember 2017 kein Begriff. Doch während meiner Zeit als vorweihnachtliche Aushilfe in der Buchhandlung meines Herzens kam eines Tages eine Kundin hereinspaziert und schwärmte in einem solchen Ausmaß von diesem Schweizer Autor, dass ich mir den Titel ihres Lieblingsbuchs von ihm notierte – einer meiner ersten Vorsätze fürs neue Jahr war, dieses Buch zu lesen.

Und – „Das Päckchen“ ist großartig! Ein Buch, das mir so viel Freude bereitet hat – auf ganz unspektakuläre Weise. Es ist kein marktschreierisches Werk, es ist bescheiden – Titel, Cover und – da lehne ich mich sicherlich nicht zu weit aus dem Fenster – sogar Autor erscheinen allesamt dezent und ungekünstelt. Doch wehe dem, der diese Bescheidenheit mit mangelnder Raffinesse verwechselt!

Protagonist Ernst Stricker ist Bibliothekar in Zürich und gerade beruflich unterwegs in Bern. Kurz bevor er zum Bahnhof geht, beschließt er, ganz altmodisch, seiner Frau aus einer Telefonzelle kurz Bescheid zu geben, dass er sich nun auf den Heimweg machen wird. Gerade als er den Hörer abnehmen will, um die heimische Nummer einzutippen, klingelt der öffentliche Apparat. Ratlos schaut er sich um – keiner scheint auf diesen Anruf zu warten. Also tut er etwas für ihn gänzlich Untypisches: Er ist spontan und geht ran. Dieser Moment wird sein Leben verändern, es zu einem Abenteuer machen und ihn in Gefahr bringen, denn am anderen Ende der Leitung ist eine ängstliche alte Dame, die Hilfe braucht.

Ernst fackelt nicht lange, er macht sich auf den Weg zu ihr. Ihr großes Anliegen: Sie hat ein Päckchen, das er in seine Obhut nehmen soll. Natürlich muss er, als er endlich zu Hause in seinem Zimmer ist, von Neugier getrieben das Päckchen auswickeln, um herauszufinden, was es ist: Er staunt nicht schlecht! Was da vor ihm liegt, ist nichts Geringeres als eine Sensation! Ein in dunkelbraunes Leder gebundener Codex, ein Botschafter aus anderen Zeiten. Es ist eine alte Handschrift – und Ernst weiß sofort, welche: Abrogans, ein lateinisch-althochdeutsches Wörterbuch, vermutlich das älteste Buch deutscher Sprache. Den für unsere Ohren merkwürdig klingenden Titel hat das Nachschlagewerk vom ersten lateinischen Wort, das aufgelistet ist – abrogans, althochdeutsch dheomodi, was im heutigen Deutsch bescheiden, demütig bedeutet.

Das Problem ist: Die alte Dame gab ihm das Päckchen aus Angst, weil immer wieder Menschen kamen, die es haben wollten. Doch sie hatte sich immer unwissend gestellt, schließlich hatte sie auch wirklich nichts über den Inhalt gewusst, hatte es doch ihr Mann ihr gegeben, kurz bevor er von einem alpinen Alleingang nicht mehr zurückgekehrt war.

Ernst erkennt die prekäre Situation, er handelt ganz automatisch. Wer will warum an dieses Buch heran? Ist es wirklich echt – und wenn ja, was ist es dann wert? All diese Fragen gilt es aufzudecken, möglichst unauffällig, denn schließlich muss er das Buch schützen. Er beschließt, noch einmal zu der ominösen alten Dame zu gehen, von der der telefonische Hilfeschrei kam, um so viele Informationen wie möglich zu sammeln. Um kein Aufsehen zu erregen, verstrickt er (ausgerechnet er!) sich immer mehr in ein Geflecht voller Lügen – und ist gleichzeitig verwundert und auch ein bisschen entsetzt, wie leicht ihm das fällt.

Adele Schaefer, die alte Buchschenkerin ist halbblind, dement und einsam. Als Ernst sie wieder besucht und ihr hilft, das Chaos in ihrer Wohnung zu beseitigen, ist sie glücklich. Wenige Tage später, als Ernst erneut bei ihr vorbeischauen will, wird sie gerade auf einer Bahre abtransportiert. War das ein natürlicher Tod, war es Mord? Was wird hier gespielt? Warum ist jemand so vehement hinter diesem Buch her? Ernst Stricker weiß, dass er das Rätsel lösen muss, wenn er irgendwann wieder ein ganz normales Leben führen will, und so findet er sich wenige Tage später, bei der Beerdigung der alten Dame, plötzlich auf der Flucht vor der Polizei in einem alten Baum wieder. Der rechtschaffene Bibliotheker ist mittendrin in seinem ganz persönlichen Kriminalfall …

Franz Hohler legt mit „Das Päckchen“ einen so schönen wie spannenden Roman vor, der in zwei Zeitebenen aufgeteilt ist: Zum einen die Zeitschiene, die in der Jetztzeit spielt, in der Ernst Stricker den Abrogans in die Hand gedrückt bekommt, zum anderen die Zeitschiene, in der der Mönch Haimo im 8. Jahrhundert den Auftrag erhält, die von ihm abgeschriebene Handschrift Abrogans aus seiner süddeutschen Heimat ins italienische Montecassino zu bringen.

Beide Erzählstränge sind äußerst spannend angelegt, so dass der Leser nicht nur viel dazulernt, bei diesen Rückblicken ins frühe Mittelalter, sondern sich auch nicht des Gefühls erwehren kann, dass der Abrogans schon immer für viel Furore gesorgt hat – im Mittelalter wie heute.

Der Schweizer Autor rutscht mit diesem Titel für mich ganz überraschend auf meine ungeschriebene Liste der Lieblingsautoren.

Buchdetails:

  • Aktuelle Ausgabe: 2. Auflage, 11.9.2017
  • Verlag: Luchterhand Literaturverlag
  • ISBN: 978-3-630-87559-0
  • Gebunden mit Schutzumschlag: 224 Seiten

19 Gedanken zu “abrogans = dheomodi (bescheiden, demütig)

  1. Das war mir schon klar 😉 Ich bin ein großer Fitzgerald Fan, der für mich ein unglaublich genauer und großartiger Beobachter war, der in einem Satz absolut leichtfüßig eine ganze Geschichte aufwerfen konnte. Das ist große Kunst. Was aber Literatur und Deadlines angeht – da gibt es viele Beispiele, dass Deadlines, ebenso wie Mindestseitenzahlen nicht unbedingt gut für die Kreativität sind und viele Gegenbeispiele, die zeigen, dass zugunsten der Kreativität auch Deadlines verschoben werden können. Ich glaube, wenn ein Werk genuin erarbeitet ist, also geschrieben werden muss, dann ergibt sich die Länge von selbst 😉 Und bei Wälzern muss man natürlich höllisch aufpassen, keine Fehler zu machen, da gebe ich Dir vollkommen recht.

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  2. Das ist nicht genau was ich meine. Eher: Wer laaaang schreibt lässt sich leichter zu Nachlässigkeit verleiten. Um zwei Beispiele auf hohem Niveau zu bringen: To the Lighthouse ist nicht nur 1/4 Text des Ulysses, sondern vll sogar „mehr“ Welt. Umso größer aber die Gefahr in modernen Zeiten, wo Deadlines eingehalten und Mindestseitenzahlen erreicht werden müssen…

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  3. Nun ja, gerade ist wieder eines angekommen – ein dickeres 😉 Moonglow von Michael Chabon … mal sehen, der Anfang ist schon mal vielversprechend. Aber ich gebe Dir prinzipiell recht, dass es natürlich sehr viel schwieriger ist, etwas genau auf den Punkt zu bringen und dabei gleichzeitig eine ganze Welt (im Kopf des Lesers) enfalten zu lassen …

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  4. Naja, Du weißt schon: soll zum Ausdruck bringen, dass ich mich ehrfürchtig verneige vor dem vielseitigen Talent.

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  5. Dankeschön für die reizende Empfehlung. Franz Hohler war in früheren Jahren vor allem als kritischer Musiker bekannt, so mit seinem legendären „Weltuntergang“. So freue ich mich zu lesen, dass mit seinem Buch die Welt wieder aufgeht. Viele Grüße, Bernd

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  6. Klingt gut – und dazu noch kurz… eins meiner Dauer-Schlachtfelder mit zeitgenössischer Literatur ist das unvorteilhafte Auswalzen von Stoffen zum „großen“ (=dicken) Roman.

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  7. Birgit, ich habe auch geguckt und offensichtlich kommt bald was Neues. Er scheint ja tatsächlich einer der großen Schweizer Autoren zu sein, dass uns der bisher durch die Lappen ging ist echt schade. LG, Bri

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  8. Prima. Ich hoffe, wir lesen davon. Bin gespannt ob er ein Finder ungewöhnlicher „Gegenstände“ (im weitesten Sinne) für seine Geschichten ist. Ein Buch, das mich dazu bringt, in anderen Büchern zu schmökern, ist doppelt wertvoll.

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  9. Liebe Christa, das ist sehr schön, vielen Dank! Ich werde Herrn Hohler weiterverfolgen, bin gespannt, was seine anderen Bücher so zu bieten haben!

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  10. Aber sicher sollte man ihn nicht unter den Tisch fallen lassen 😉 sagt die Buchwissenschaftlerin 😉 Herzlichen Dank für die Verlinkung!! Ich war auch ganz überrascht und bin glücklich über diese schöne Entdeckung. LG, Bri

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  11. Das war mir jetzt eine besondere Freude. Über den Abrogans hatte ich 2011 in meiner Kategorie „Lexikon“ geschrieben, diesen Eintrag aber nicht von blog.de hierher übernommen. Ich habe ihn jetzt neu veröffentlicht – mit einem Link zu dieser Buchbesprechung. – Danke für den Hinweis, dass man den Abrogans doch nicht einfach unter den Tisch fallen lassen sollte.
    https://christahartwig.wordpress.com/2018/02/22/lexikon-abrogans/

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