John Higgs

17663[1]„Was zum Teufel geschah zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der menschlichen Psyche?“

 John Higgs hat seine ganz eigene Art diese Frage in seinem Buch „Alles ist relativ and anything goes“ OT: Stranger Than We Can Imagine. Making Sense Of The Twentieth Century  zu beantworten. Derart, dass ich mich nach Lektüre begeistert, bereichert, hervorragend unterhalten und fasziniert fühlte. Der OT trifft den Inhalt, wie so oft, übrigens erheblich besser.

„Und so sieht unser Plan aus: Wir wollen eine Reise durch das 20. Jahrhundert unternehmen, auf der wir die Hauptstraßen verlassen und in die dunklen Wälder eindringen werden, um dort nach Schätzen zu suchen.

Der Anfang des Buches verblüffte. Nimmt einen Higgs doch mit in die Tate Modern Gallery in eine Retrospektive Paul Gaugins (gest. 1903), die dankenswerterweise 😉 weiterführt in die Abteilung für das 20. Jahrhundert zu Picasso, Dali, Ernst etc.. Künstler die das vergangene Jahrhundert stark geprägt und beeinflusst haben und hier ist bereits die Stärke von Higgs’ Reise durch das unglaublich seltsame und ziemlich wahnsinnige 20. Jahrhundert“ zu erkennen.

 

Diese Reise führt vorbei an Künstlern der schreibenden Zunft, bildenden Künstlern, Musikern, Politikern, Philosophen, Prominenten des vergangenen Jahrhunderts, Wissenschaftlern, Entdeckern, Rockstars, Flappern, Scharlatanen, Industrialisierung, Digitalisierung, sozialen Netzwerken, Ausflügen in die Vor-und Frühgeschichte, Weltkriege, Mythen, Legenden und und und … Dabei ist es exakt jene Gemengelage die den Reiz der Reise ausmacht mit ihren zahllosen Abstechern, die ungeduldigere oder sehr korrekte Naturen womöglich enervierend finden könnten, die aber das Gesamtbild derart viel- und tiefschichtig, perspektivisch reichhaltig illustrieren, dass ich mich diesem Reiz nicht entziehen konnte.

Er beschränkt sich nicht auf geschichtliche Tatsachen und Fakten. Genüsslich und amüsant verknüpft er diese, driftet in philosophisch, soziologisch, künstlerische Betrachtungen ab, beleuchtet dieses Jahrhundert aus vielen verschiedenen Perspektiven en détail. Higgs bereichert und fesselt den willigen Leser mit seinem profunden Wissen, und übersetzt das Schroedingersche Paradoxon (das Gedankenexperiment zur Verdeutlichung der Quantenmechanik) in seine eigene Fassung, die mir wesentlich einleuchtender und nachhaltiger erschien als die ursprüngliche Erklärung. Higgs erläutert, durchleuchtet und demaskiert Gesellschaftskonzepte und Konstrukte auf sehr eigenwillige aber nachvollziehbare Art und Weise. Pickt, verblüffend exakt, die Anfänge der Veränderungen heraus. Forscht jenen Ursprüngen unter Zuhilfenahme von Kunst; Kultur, Geschichte, Wissenschaft nach und es ist unglaublich spannend, meist erhellend und witzig, aus dieser gebotenen Fülle schöpfen zu dürfen. Nebenbei enttarnt er den Neoliberalismus, der wie er feststellt ohne den Individualismus, der im 20. Jahrhundert aufblühte, nicht denkbar gewesen wäre. Belegt, weshalb immerwährendes ökonomisches Wachstum schlicht ein Ding der Unmöglichkeit ist.

Bei Lektüre stellt man (ich zumindest) aufgescheucht fest wie ungebildet man tatsächlich ist. 😉 Sicher, das Personal und seine Handlungen sind größtenteils bekannt, aber nicht nur bei atonaler Musik und der Schriftstellerin Ayn Rand, Autorin von „Atlas wirft die Welt ab“ und zusammen mit u.a. Alistair Crowley Schöpferin der „Tugend des Egoismus“ musste ich passen. Umso faszinierender die Gedankengänge, die Higgs hier ausbreitet und verfolgt, und wer Muße hat, darf sich anhand des reichhaltigen Index gerne weiterbilden. Ist doch allein schon das Stichwortregister das von A wie Absolutismus, Douglas Adams,  Chuck Berry, Beutelwolf; Camus, chinesischem Flußdelphin , Emanzipation, Empfängnisverhütung, Freier Assoziation bis Spaceshuttle, Weltformel, Yeats bis zur Kunst und Literatur im Zweiten Weltkrieg über 10 kleingedruckte Seiten reicht wunderbar abwechslungsreich und verheißungsvoll. All diese und noch weit mehr Themengebiete rund um die Menschheit haben ihren Ursprung im OMPHALOS Mittelpunkt der Welt.

Der OMPHALOS: „In der alten Geschichte findet sich ein Konzept, das als Omphalos bezeichnet wird. Der Omphalos ist der Mittelpunkt der Welt, oder genauer das, was die jeweilige Kultur für den Mittelpunkt der Welt hielt. In einem religiösen Kontext betrachtet, war der Omphalos zugleich die Verbindung zwischen Himmel und Erde. Gelegentlich wurde er auch als Axis Mundi oder als Säule der Erde bezeichnet und physisch durch ein Objekt wie eine Säule oder einen Stein dargestellt. Der Omphalos war ein universelles Symbol, das fast allen Kulturen gemeinsam war, sich aber jeweils an anderen Orten befand.“ Die alten Japaner hielten den Fujiyama für den O, die Sioux die Black Hills, die Griechen Delphi, Rom selbst war es für die Römer, im christlichen Zeitalter war es Jerusalem … und seine Wandlung durch die Zeiten bis zu seiner Entthronung im 21. Jahrhundert. Somit ist der Omphalos, der Nabel der Welt auch der Nabel dieses außergewöhnlichen Sachbuches. und dient als roter Faden an dem sich diese Reise grob orientiert. Und wie so oft gilt hier besonders: DER WEG IST DAS ZIEL.

Mein persönliches Fazit, das sich nach der Lektüre regelrecht aufdrängte, war die Erkenntnis, wie sehr Vordenker egal welcher Art eine Gesellschaft unbewusst – denn das geschieht beim Gros der Gesellschaft mittels verschiedenster Medien unbemerkt nebenbei –  beeinflussen. Einerseits faszinierend, andererseits, wenn man bestimmte politische Strömungen der Jetztzeit ins Auge fasst, erschreckend. Higgs hingegen verbreitet, am Beginn des 21. Jahrhunderts angelangt, sachten hoffnungsfrohen Optimismus. Dazu setzt er sein Vertrauen in die „neuen Medien“, die laut ihm dazu beitragen der „Zwangsjacke des Individualismus“ diesem „allzu begrenzten Modell“ zu entfliehen. Und so endet dieses fulminante Sachbuch mit den aufmunternden Worten : „Nur Mut“

Diesen wünsche ich auch allen Lesern dieser völlig objektiven Besprechung, die bis hier folgten. Stürzt euch drauf. Lasst euch diese abgefahrene Tour de Force durch das letzte Jahrhundert (Jahrtausend) nicht entgehen. John Higgs fördert sie heraus aus den

„…dunklen Flecken der tiefen dichten Wälder im Gelände des 20. Jahrhunderts.“ Betritt “ … Gebiete wie die Relativitätstheorie, den Kubismus, die Schlacht an der Somme, die Quantenmechanik, das ES, den Existenzialismus, Stalin, Bewusstseinserweiterung, die Chaostheorie und den Klimawandel…Wir sind jetzt Bürger des 21. Jahrhunderts. Das Gestern haben wir hinter uns gelassen. Wir sind dabei dem Morgen zu begegnen. Wir sind inzwischen in der Lage uns in den dunklen Wäldern des 20. Jahrhunderts zurechtzufinden.“

Euch viel Vergnügen! Ich gönne mir und der lesefaulen family dieses Happening voller faszinierender, witziger AHA – Erlebnisse nochmals, diesmal als bewusstseinserweiterndes  Hörbuch.

Buchdetails

  • Erscheinungsdatum Erstausgabe: März 2016
  • Verlag : Insel Verlag
  • ISBN: 978-3-458-17663-3
  • Gebunden: 379 Seiten

 

 

 

15 Gedanken zu “John Higgs

  1. ja Bri hat Recht, ich habe mir noch nicht die Mühe gemacht, meine Wunschliste zu unterteilen in Muss, Soll und Nice to have Bücher – das „kleine“ bezog sich tatsächlich ironisch auf die 555 Bücher auf dieser Liste

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