Lieben – und weiterkämpfen

lieben„Dort wurden Menschen geboren, dort starben Menschen, dort wurde geliebt und gestritten, gegessen und geschissen, getrunken und gefeiert, gelesen und geschlafen. Ferngesehen, geträumt, geputzt, ein Apfel verspeist und auf die Hausdächer hinausgeschaut, und es gab die Herbstwinde, die an den langen, schlanken Kiefern zerrten.
  Klein und hässlich, aber alles, was es gab.“ S. 749

Es ist das normale Leben, das Karl-Ove Knausgård hier in den anderen Häusern erahnt, und es ist sein eigenes normales Leben, das er im zweiten Band „Lieben“ (im Original „Min Kamp 2“) seines autobiografischen Projekts bis aufs Kleinste beschreibt. Oder vielmehr seziert: das Leben mit seiner zweiten Frau Linda und den schließlich drei gemeinsamen Kindern.

Ich bin spät dran. Etwas über ein Jahr ist es her, dass ich fasziniert, aber zwischendurch auch mit einigem Widerwillen über das allzu Persönliche, das Knausgård mir da ungefiltert vorsetzte, den ersten Band „Sterben“ las. Dieser Widerwille war es wohl auch, der mich nicht sofort zu Band 2 greifen ließ. Als es nun so weit war, war ich wieder sofort in diesem Kosmos verschwunden, in Knausgårds Leben, in seinem Kopf. Las und las, konnte kaum aufhören.

Warum soll man das also lesen? Diese minutiösen Alltagsbetrachtungen, die Beschreibungen von Hausarbeit und Kinderhüten, was macht diesen inzwischen sehr bekannten norwegischen Schriftsteller so interessant? Ganz einfach ist es nicht, das zu erkennen und in Worte zu fassen.

Zu Anfang kam bei mir immer wieder die Frage auf: Wie ist es wohl für diese Menschen, über die Knausgård schreibt – und zwar seine ungeschönte Meinung – dies zu lesen? Zu wissen, dass dies unwiderruflich dort zwischen zwei Buchdeckeln steht, jeder es lesen kann, ohne dass man sich dazu äußern kann? Aber darum geht es nicht. Dies ist allein Knausgårds Geschichte. Es geht um sein Leben, seine Gedanken und Gefühle. Als Leser muss man sich auf genau diese einlassen. Auf diesen seelischen Striptease, den Knausgård zelebriert. Er befasst sich nicht nur mit Windelnwechseln, sondern auch mit der genauen Durchleuchtung seines eigenen Charakters. Da wird nichts relativiert: Knausgård ist voller Selbstzweifel, voller Scham und hoher Ansprüche, denen er, so sein Empfinden, niemals gerecht werden wird.

„… Aber ich kann mir das einfach nicht verzeihen. Und so wird es bis zu meinem Tod bleiben. Ich habe eine lange Liste von Dingen, die ich getan habe, und bei denen ich nicht gut genug war. Denn darum geht es. Du sollst nicht betrügen. Und man sollte meinen, das wäre ein Ideal, an das man sich problemlos halten kann.“ S. 632

Das hätte natürlich auch schief gehen können. Und die Leserschaft spaltet sich in zwei Teile: die Begeisterten, die in die Bücher des Autors komplett eintauchen oder sie in sich aufsaugen auf der einen Seite und diejenigen, die irritiert fragen, warum sie das lesen sollen, auf der anderen: 700 Seiten Alltag und Selbsttherapie? Warum? Ist dieser Mann wirklich so interessant?

Meine Antwort darauf: Er ist es. Aber neben seiner faszinierenden Art und Weise, sich selbst und sein Verhalten bis aufs Kleinste zu analysieren und sich so am Ende vielleicht besser zu verstehen, ist da noch der zweite Aspekt: Dass man sich in diesen Beschreibungen irgendwo wieder erkennen kann. Im Alltag, vor allem im Beziehungsalltag. Knausgårds Beziehung zu seiner Frau ist von tiefer Liebe geprägt, aber immer wieder gibt es Probleme und Streit um die Kindererziehung, es wird aufgerechnet, wer wie viel beiträgt zum gemeinsamen Leben, sie reiben sich aneinander auf, es ist zermürbend. Sie kämpfen um Freiräume, er sehnt sich nach Ruhe, um nichts als schreiben zu können, sie fühlt sich überfordert. Sie scheinen keine Lösung zu finden. Irgendwann empfindet man als Leser wie diese beiden – man war schließlich bei vielen Auseinandersetzungen dabei.

Man muss sich einlassen, auch auf die Art und Weise, wie Knausgård irgendwo anfängt, ihm dann eine Episode „einfällt“ (natürlich ist hier nichts dem Zufall überlassen), die sich lange zuvor zugetragen hat. Man folgt ihm, ohne zu wissen, wann man wieder zur Ausgangssituation zurückkehren wird. Ja, das wirkt beim Lesen entschleunigend, wie Ijoma Mangold es auf ZEIT ONLINE beschrieb (bezogen auf Band 4). Knausgårds Schreiben folgt einem ganz eigenen Rhythmus. Auch lange Exkurse zu philosophischen und literarischen Themen finden ihren Platz.

Ich bin spät dran, ja. Ich hinke hinterher. Während ich gerade erst Band 2 beendet habe, wird im September bei Luchterhand bereits der fünfte Band des Projekts von insgesamt sechs, „Träumen“, auf Deutsch erscheinen. Aber das bedeutet auch, dass ich noch viermal neu in diesen seltsamen Kosmos eintauchen darf.

„Es ging nicht darum, dass ich keine Lust hatte, den Fußboden zu putzen oder Windeln zu wechseln, sondern um etwas Fundamentaleres, dass ich in dem mir nahen Leben keinen Wert erblickte, mich stattdessen unablässig fortsehnte und dies schon immer getan hatte. Das Leben, das ich führte, war folglich nicht mein eigenes. Ich versuchte, es zu meinem zu machen, das war der Kampf, den ich ausfocht, denn das wollte ich doch, aber es gelang mir einfach nicht, alles, was ich tat, wurde von der Sehnsucht nach etwas anderem vollständig ausgehöhlt.“ S. 87

Buchdetails

  • Aktuelle Ausgabe: 14. Oktober 2013
  • Verlag : btb Verlag
  • ISBN: 978-3-442-74685-9
  • Taschenbuch: 768 Seiten

8 Gedanken zu “Lieben – und weiterkämpfen

  1. „Alles hat seine Zeit“ kenne ich noch nicht. Steht auch im Moment nicht auf meinem Plan. Du hast recht, er macht das großartig.

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  2. Ich bekenne mich auch als Knausgard-Fan, kannte ihn aber auch schon vor diesem Mammut-Projekt mit seinem Roman „Alles hat seine Zeit“. Mich fasziniert, wie er das Banale des Alltags mit den großen Gedankendes Lebens vermischt und auch Einblicke in das Leben eines Schriftstellers gibt. Ich würde mir allerdings auch wünschen, dass die Knausgard-Euphorie viele dazu motiviert, mal andere norwegischen Autoren und Autorinnen zu lesen. Denn die Literatur des Landes ist reich an Schätzen.

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  3. Ach naja…. Die lesen sich schon schnell, finde ich. Und man muss sie ja nicht direkt nacheinander lesen.

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  4. Reingelesen habe ich schon, der Wunsch ist da, das ganze Projekt zu lesen – aber ich fürchte mich davor, dass es die eh schon knappe Lesezeit vollends einnimmt…auf Monate…

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  5. Ich denke, man kann sie auch ganz unabhängig voneinander lesen, man muss nicht mit Sterben anfangen. Du kannst ja einfach mal in eins der Bücher reinlesen und dann entscheiden. Gibt ja auch viele, die dem nichts abgewinnen können…

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  6. Ich verstehe Dich gut. Ich habe Lieben erst vor ein paar Tagen beendet und dachte, ich brauche jetzt wieder ne Pause. Aber schon jetzt liebäugle ich mit Band 3… 🙂

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  7. Nach Band 1 dachte ich, jetzt reicht es mit Knausgard. Ich weiß ja jetzt, wie er tickt. Aber mit etwas Abstand, so wie du es gemacht hast, habe ich vielleicht doch Lust, mich wieder auf ihn einzulassen. Danke für die lesenswerte Besprechung!

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